Marathon in unter 2 Stunden, und dann?
Die 2-Stunden Marke ist für viele der letzte große Meilenstein, den es im Laufsport zu brechen gilt. In den letzten Jahren kamen Läufer dieser Barriere immer näher. Aber zu welchem Preis und hilft diese Entwicklung unserem Sport?
Um sich für die Olympischen Spiele 2024 in Paris zu qualifizieren, müssen Zeiten gelaufen werden, die vor ein paar Jahrzehnten noch unvorstellbar gewesen sind. Ja, heute gibt es viele neue Trainingsmethoden, bessere Ausrüstung, bessere Regenerationsmaßnahmen und generell mehr Wissenschaft im Sport. Aber mir stellt sich die Frage, ob das eine gesunde Entwicklung ist. Jahr für Jahr werden sowohl bei den Frauen, als auch bei den Männern neue Rekorde aufgestellt. Die “Superschuhe” haben diese Entwicklung nochmal beschleunigt und auch die Dichte an schnellen Zeiten ist extrem gestiegen. Plötzlich scheint auch eine Marathonzeit unter zwei Stunden in einem offiziellen Rennen greifbar nahe. Der amtierende Weltrekordhalter aus Kenia, Eliud Kipchoge, ist letztes Jahr in Berlin (2:01:09), der Newcomer Kevin Kiptum dieses Jahr in London (2:01:39) sehr nahe an diese Marke herangelaufen.
Gleiches, wahrscheinlich noch stärker, gilt für Leistungen auf der Bahn. In der vergangenen Hallensaison (2022/23) sind weltweit wieder zahlreiche National-, aber auch Weltrekorde gefallen. Darunter zum Beispiel auch der 25 Jahre alte Indoor-WR über 3.000m von der kenianischen Legende Daniel Koman (7:24.90, 1998 in Budapest). Der Rekord ist dieses Jahr beim 3.000m Hallenrennen in Liévin, Frankreich gleich von zwei Läufern gebrochen worden: Lemecha Girma aus Äthiopien in 7:23.81 und Mo Katir aus Spanien in 7:24.68. Ein anderes Beispiel ist der 600-Meter-Hallenweltrekord von der Russin Olga Kotlyarova aus dem Jahr 2004 (1:23.44), den Keely Hodgkinson dieses Jahr in Manchester mit 1:23.41 gebrochen hat.
Außergewöhnliche Leistungen von außergewöhnlichen Athlet:innen, keine Frage. Aber wie wichtig und inspirierend sind solche Rekordläufe wirklich, und wie lange bleiben sie in Erinnerung?
Ob von dieser Entwicklung irgendjemand der aktiven Läufer:innen profitiert, wage ich zu bezweifeln. Ich würde sogar behaupten, dass die Entwicklung schlecht für den Laufsport als solches ist. Für die meisten Hobbyläufer da draußen sind solche Zeiten nicht greifbar. Die weltweite Durchschnittszeit für einen Marathon beträgt rund 4 Stunden und 21 Minuten - bei Männern durchschnittlich 4 Stunden und 13 Minuten, bei Frauen 4 Stunden und 42 Minuten. Es ist also vollkommen egal, ob die Profis den Marathon in 1:59, 2:03 oder 2:12 oder bei den Frauen in 2:09, 2:17 oder 2:31 finishen. Alles wird als "schnell" begriffen und man hat keine konkrete Relation zu der Geschwindigkeit. Noch weniger Bezug gibt es zu den Zeiten und Distanzen auf der Bahn. Der Name des neuen Rekordhalters wird zwar in einer Liste verewigt, dennoch ist der Erfolg vergänglich. Nach wenigen Tagen erinnern sich die wenigsten daran. Was in Erinnerung bleibt sind Geschichten: Duelle, Comebacks, Niederlagen und Siege.
Drang zur Verbesserung und Optimierung
Das kenne ich aus persönlicher Erfahrung. 2022 lief für mich solide: Ich habe beim Berlin-Halbmarathon eine persönliche Bestzeit (1:14:08) aufgestellt und auch mit der Zeit bei meinem Marathon-Debüt in Berlin (2:40:49) war ich zufrieden. Doch ich hatte lange Zeit Schwierigkeiten, mir neue läuferische Ziele für 2023 zu setzen.
Ich wollte mich nicht mit dem Vorjahr vergleichen, in dem die Vorbereitung für beide Rennen nahezu reibungslos lief. Außerdem hab ich mir die Frage gestellt, woher dieser Zwang und Wunsch zur Verbesserung kommt und für wen oder für was man das eigentlich macht. Wenn wir mal ehrlich sind: wen interessiert’s, ob meine Halbmarathon-PB bei 1:14:08 oder bei 1:13:59 liegt … oder ich vielleicht sogar mal unter 70 Minuten laufen? "Schnell" ist relativ.
Natürlich macht’s Spaß, sich zu verbessern. Es ist ein geiles Gefühl, Kleinigkeiten zu optimieren und die Verbesserung in Form einer schnelleren Zeit zu sehen. Am Anfang sind die Sprünge größer, normalerweise flacht die Kurve aber irgendwann ab. Bei manchen früher, bei anderen später. Und dann stellt sich die Frage: was kann ich noch tun? Welche Möglichkeiten gibt es noch, die ich aktuell noch nicht ausschöpfe?
Für Profi-Läufer ist das Alltag. Die Boys und Girls trainieren so hart, gehen immer akribischer an die Sache heran und verzichten dabei auf so Vieles. In vielen Fällen haben sie sogar ein ganzes Team voller Experten um sich herum, die ihnen Tipps, Methoden und weitere Möglichkeiten zur Verbesserung an die Hand geben. Und das alles, um persönlichen Bestzeiten oder Normen hinterherzurennen. Ihre Wettkampf- und damit Jahresplanung wird von den Normen und Qualifikationsrichtlinien von Europa- oder Weltmeisterschaften oder natürlich dem großen Traum Olympia vorgegeben. Die Normen werden immer schneller, was mehr Druck und noch mehr Perfektion im Training bei den Läufer:innen bedeutet.
Zeiten anderer oder immer schneller werdenden Zeit-Standards hinterherrennen – wo soll das hinführen? Wäre es nicht an der Zeit, Laufen neu zu denken? Weg von Bestzeiten, hin zu spannenderen Rennen und vor allem greifbareren Leistungen. Zuschauerfreundlichere Events, mehr Abwechslung für die Athlet:innen und gleichzeitig ein insgesamt spannenderes Erlebnis. Dass es möglich ist, zeigen andere Sportarten. Wer hat Lust?
Bis zum nächsten Mal!
Sven Rudolph // @rrrudolph